
Es ist widerspricht deutlich meinem dramaturgischen Gefühl, aber inhaltliche Gründe überwiegen: Nachdem ich gestern schon über den Lyriker Wolfram von Eschenbach geschrieben habe, mache ich heute schon wieder eine einzelne Liedstrophe zum Gegenstand meiner Kunstbetrachtung, nämlich Paul Gerhardts O HAUPT VOLL BLUT UND WUNDEN. Dieses Lied ist für mich der Inbegriff von Karfreitag, und zwar musikalisch ebenso wie literarisch.
O Haupt voll Blut und Wunden,
voll Schmerz und voller Hohn;
o Haupt, zum Spott gebunden
mit einer Dornenkron;
o Haupt, sonst schön gezieret
mit höchster Ehr und Zier,
jetzt aber hoch schimpfieret:
gegrüßet seist du mir!

Gerhardt, und viele Theologen bis heute, sehen als Basis für die individuelle Beantwortung dieser Frage das intensive Nachfühlen der Aufopferung des Gottessohnes, nach dem Motto: „Nur, wenn wir genau wissen, was Christus für uns getan hat, können wir daraus Konsequenzen ziehen.“ Die Konsequenzen wären dann ein ziemlich ernsthaftes und würdiges Leben, das (ich will Paul G. jetzt nicht unrecht tun, aber ich befürchte:) nicht von übermäßigem Humor kontaminiert würde. Ich schätze die Ernsthaftigkeit des strengen Protestantismus sehr, aber ich habe das Gefühl, dieses Gebot der Innerlichkeit, der tief gefühlten Identifikation mit dem Leiden Christi, müsste ein ebenso unernstes Gebot der Selbstver- oder -entäußerung gegenüberstehen. Will heißen: Wenn man sich schon zu Karfreitag diesen schrecklichen Schmerz aneignen soll, dann müsste man ebenso seine Freude und Erleichterung über positive Aspekte des Christentums, wie die Auferstehung, hinausposaunen. Und das wird auch immer wieder gepredigt, aber das macht ja keiner, jedenfalls nicht im gleichen Maße wie man ernsthaft ist. Meine ganz persönliche Konsequenz aus dem vielleicht perfekten Ausdruck des Schmerzes – O HAUPT VOLL BLUT UND WUNDEN – lautet also, dem psychologischen Zaumzeug der Trauer spätestens übermorgen eine ganz entschieden freche und ungezügelte Lebensfreude entgegen zu setzen.
Anwendungsgebiete: Offene Wunden