
Egal ob bei DSDS, Supermodel, Dschungelcamp, Let’s Dance oder Bachelor – um Inhalte und Sachfragen geht es nur am Rande. Was das Privatfernsehen in den letzten Jahren zur großen Kunst erhoben hat, ist die Ausweitung und Ausweidung der Gefühligkeit. „Zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich“, darum gehts, anders ist es wohl kaum zu erklären, warum Juryentscheidungen, Rosenvergaben, Battles und Rendezvous unendlich in die Länge gezogen, analysiert, wiedergekäut und bis zum letzten Tropfen ausgepresst werden: Das „echte“ Gefühl, das die Beteiligten in diesen „Schicksalsmomenten“ hatten, bringt Quote, überwindet die Trennung durch das Medium, verbindet die Zuschauerschaft völlig authentisch-menschlich in einer Zeit, in der wir als Gesellschaft spüren, wie das Universum auseinander driftet. Und obwohl es ein großartiges Stück ist, und weder in Form noch Geschichte etwas mit diesen Sendungen gemein hat: Shakespeares CORIOLANUS tut genau dasselbe.

Da tritt dieser römische Adlige Caius Martius auf und meckert über die Sozialschmarotzer, die römische Unterschicht, die nicht nur Getreide zur Beilegung der revolutionären Unruhe bekommen sollen, sondern auch noch Volkstribunen, die bei der Stadtregierung mitreden! Er sagt es der Plebs frei heraus, dass er sie eher am Galgen haben will als mit ihr zusammen zu arbeiten: „Trust ye? Hang ye!“ Für ihn gibt es nur einen Maßstab des Verhaltens, und das ist soldatische Ehrenhaftigkeit. Wer sich nicht ehrenhaft verhält, ist für ihn ein rotes Tuch. Als es kurz darauf nötig wird, einen Kriegszug gegen die feindlichen Volsker zu unternehmen, führt dieser Charakterzug die Römer zum Sieg. Martius’ persönlicher Mut hält die Flucht seiner Landsleute auf, allein kämpft er in der feindlichen Stadt, besiegt auch deren General Aufidius mehrfach. Da er die Stadt Corioles eingenommen hat, wird er von nun an mit dem Ehrentitel „Coriolanus“ angeredet, und seine Freunde in Rom – Adlige wie er – wollen ihn zum Konsul, zum Regierungschef der jungen Republik machen. Hierzu wird er per Akklamation bestimmt, die Tradition will es aber, dass er sich auch der Plebs stellen, um ihre Stimmen werben und der Unterschicht die Narben zeigen soll, die er im Dienste Roms erworben hat. Aber so sehr Coriolanus die Ehre genießt – er kann sich nicht mit dem Volk gemein machen. Er hält sich für etwas besseres, lässt sie es spüren und die ohnehin neidischen Volkstribunen haben so einen Grund, ihn verbannen zu lassen. Was für ein Wechselbad der Gefühle! Da alle Brücken hinter Coriolanus abgebrochen sind, macht er sich jetzt auf zu seinem Erzfeind Aufidius und bietet sich ihm als Verbündeter gegen Rom an. Und zu unserer Überraschung geht Aufidius tatsächlich auf das Angebot ein – die Volsker nehmen Coriolanus auf und stellen ihn an die Spitze ihres neuen Heeres gegen Rom. Als er mit diesem vor den Toren seiner Heimatstadt steht, vermögen es seine alten Weggefährten nicht, ihn um Gnade anzuflehen. Dann jedoch treten die Frauen auf: Volumnia, seine dominante Mutter, die ihn zu dem ehrbesessenen Monster erzogen hat, das er ist, ebenso wie seine ausgesprochen einsilbige Frau. Sie schlagen ihm vor, einen Frieden zwischen Rom und den Volskern zu vermitteln und er lässt sich dazu bewegen. Auf diese menschliche Regung allerdings hat Aufidius nur gewartet. Als Coriolanus zu den Volskern zurückkehrt, wirft er ihm öffentlich Untreue vor, hetzt das Volk gegen ihn auf und lässt ihn ermorden.

Bei den meisten der oben aufgezählten Fernsehsendungen werde ich selten gut unterhalten und habe mit großer Verlässlichkeit ein deutliches Gefühl der Leere, wenn ich sie angeschaut habe. Weil sie emotional manipulativ, aber eben inhaltsleer sind. Es geht nicht um Werte, sondern nur um eine hormonelle Achterbahnfahrt. Ich verurteile das keineswegs, ich verstehe das Bedürfnis danach, für mich allerdings brauchts mehr Futter dazu. Dieses Futter liefert CORIOLANUS durchaus, denn, wie gesagt, es geht um stark politische Fragen in diesem Stück. Nun muss man fairerweise zugeben, dass auch die elisabethanischen Zuschauer, die es angeschaut haben, weder eine Revolution gegen die Adelsherrschaft gestartet noch plötzlich zu aufgeklärten Demokraten geworden wären – aber neben der emotionalen Achterbahnfahrt hinterlassen die Geschichten eben Spuren, zementieren sie das, was wir für „normal“ im Sinne von „Norm“ halten. Und da ist es meines Erachtens allemal besser, sich darüber Gedanken zu machen, von wem und aus welchen Motiven der Staat manipuliert wird, als sich über Outfit, Make-Up und Hüftschwung den Kopf zu zerbrechen. Na gut. Genug Kultur für heute. Mal gucken, was noch im Fernsehen kommt.
Anwendungsgebiete: Narbenschmerzen.