

Weil ich also im Freien kein Glück und auch keine weitere Zeit zur Recherche hatte, habe ich auf etwas Bewährtes zurück gegriffen: Hitchcocks DIE VÖGEL. Kritiker mögen jetzt sagen, die hätte ich auch im Freien haben können, statt der nicht vorhandenen öffentlichen Kunst, aber, so absurd es klingt, um Vögel gehts in dem Film nicht. Melanie lernt Mitch kennen, in der Großstadt, und zwar in einem Vogelgeschäft. Da sie sich beide irgendwie cool finden, necken sie sich ordentlich, was damit endet, dass sie ihm am nächsten Tag ein Paar „Liebesvögel“ vorbei bringen will. Da er bei seiner Mutter in einem Küstendorf ist, fährt sie ihm hinterher. Ungewöhnlich viel Eigenständigkeit und Unabhängigkeit für eine Frau Anfang der Sechziger (der Film erschien 1963), und genau dafür wird sie auch streng zur Rechenschaft gezogen; Mitchs Mutter steht ihr sehr kritisch gegenüber. Die streitlustige Beziehung zwischen dem Rechtsanwalt Mitch und der reichen Erbin Melanie würde wahrscheinlich entweder der Mutter oder Melanie das Herz brechen, wenn nicht die Natur plötzlich verrückt spielte: Zunächst wird Melanie von einer einzelnen Möwe verletzt, dann überfällt ein Schwarm Vögel die Geburtstagsfeier von Mitchs kleiner Schwester, das Wohnhaus der Familie und so weiter. Menschen im Dorf sterben; Mitch, Melanie, die Mutter und die Schwester verbarrikadieren sich. Die Großoffensive der gefiederten Luftwaffe überstehen sie zunächst, dann jedoch wird Melanie übel zugerichtet, als sie einen Raum betritt, in den die Vögel gelangt sind. Der Film endet damit, dass die vier Menschen ihr Haus, das von Tausenden Vögeln belagert wird, auf Zehenspitzen verlassen und mit dem Auto fliehen. Es bleibt ihnen Angesichts der Schwärme des Bösen nichts als die Kapitulation, die Flucht. Zu Beginn des Films kann man sich gar nicht vorstellen, in welchen Alptraum sich die heitere Romanze zwischen den beiden Großstädtern verkehren wird; die Vögel brechen in die Handlung ein, wie in den Alltag der Dorfbewohner. Die besondere ästhetische Qualität, die Hitchcock gelingt, hängt für mich eng mit der Tatsache zusammen, dass es keine Filmmusik gibt – Soundeffekte natürlich, v.a. das Schreien der Vögel, aber der Schrecken der Figuren wird nur visuell und über das Spiel der Darsteller vermittelt. Obwohl er sehr streng komponiert ist, sehr klare, ikonische Bilder liefert, hat der Film auf diese Weise fast etwas Dokumentarisches. Und nun zu meiner Behauptung, es ginge nicht um Vögel. Es geht natürlich um Menschen, und insbesondere geht es um die von Tippi Hedren gespielte Melanie. Sie ist eine sehr emanzipierte Frau, aber nicht auf eine bescheidene Weise, sondern sie grast in der Domäne der Männer, indem sie beispielsweise frech ist, unternehmungslustig und fordernd gegenüber ihrem Beziehungsanwärter. Das finden die andern Frauen im Film überhaupt nicht lustig, wie schon erwähnt droht Mitchs Mutter ihr ziemlich offen Ärger an, wenn sie ihr nicht gefallen sollte. Auch Mary, die Dorflehrerin und Mitchs Verflossene, findet ihr Auftreten erstmal gar nicht gut, aber viel entscheidender wird der Vorwurf, als das Dorf gerade angegriffen wird, von einer Mutter erhoben: Sie macht Melanie für das unnatürlich aggressive Verhalten der Vögel verantwortlich, denn deren Austicken fällt mit Melanies Auftauchen im Dorf zusammen. Leider ist keine Zeit für eine ordentliche Hexenverbrennung, sonst hätten die pflichtbewussten Frauen von Bodega Bay sich sicher zu helfen gewusst. Aber der Vorwurf steht im Raum: Diese Frau ist unnatürlich, sie ordnet sich nicht den Männern unter, wie sie sollte, sondern stellt die gottgegebene Ordnung der Dinge in Frage. Die Tatsache, dass Melanie schwer verletzt wird und wie ein Zombie von Mitch aus der Gefahrenzone gebracht werden muss, erzählt sehr deutlich, dass Melanie mit ihrer freiheitlichen Lebensweise hier in der Provinz an ihre Grenzen gestoßen ist. Aus echter Zuneigung zu Mitch ist sie keck in die Pampa gefahren, aber hier hat sie sich eine blutige Nase geholt. Sie wagt sich aus dem Haushalt heraus ins Freie und wird – um die Metapher zu strapazieren – vogelfrei. Das ist nun weiß Gott kein Film, der die Gleichberechtigung in irgend einer Weise voran treibt, andererseits ist er sicherlich ein korrektes und kritisches Abbild der stereotypen Rollenbilder seiner Entstehungszeit. Und gleichzeitig ist er auch noch ein spannender Thriller! Das schätze ich an Hitchcock am meisten: er ist simpel, er ist klar, und doch so vielschichtig, dass man sich darin verlaufen kann. Man muss allerdings gut aufpassen, vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause zu sein.